Franz Dobler: Der Kommissar vom Schwarzen See
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Nachdem 2015 die serbischen Künstler Milica Milićević, Milan Bosnic (diSTRUKTURA) und Selman Trtovac für einige Wochen in Augsburg als Artists in Residence zu Gast waren, folgte im April 2016 ein Gegenbesuch von Franz Dobler. Der Autor verbrachte die Wochen um Ostern auf Einladung des Goethe-Instituts Belgrad in einigen Ländern Südosteuropas. Die Lesereise führte ihn nach Serbien, Montenegro und Kroatien.
Nachdem wir im Norden Montenegros den »Schwarzen See«, den 1.400 Meter hoch gelegenen Gletschersee Crno Jezero in der Nähe von Bijelo Polje besucht hatten, wurden wir auf dem Weg zurück zur Brücke über den Tara Canyon von einem Streifenpolizisten rausgewunken.
Unser serbisches Nummernschild, sagte Selman Trtovac. Er blieb ruhig und gab ihm alle Papiere.Sie redeten. Der Polizist gab ihm die Papiere zurück und sie redeten weiter. Dann telefonierte der Polizist und Selman lachte. Was war denn los? Er hat gesagt, sein Chef muss heute auch nach Belgrad, ob wir ihn mitnehmen könnten. Wir konnten. Aber hättest du auch nein sagen können? Klar, sagte Selman.
Der Polizist fuhr also los, um seinen Chef abzuholen, und wir genossen die Aussicht über die ganze Hochebene, an deren Ende schneebedeckte Berge aufragten. Wer’s nicht in den Himalaya schafft, kann diesen Anblick hier bewundern.
Der Kommissar sah aus wie ein deutscher SEK-Mann in der Freizeit: Turnschuhe, Trainingshose, Kapuzenjacke, Sporttasche, Haare 0,5 mm. Wir platzierten ihn neben Selman, sie konnten sich unterhalten. Der Kommissar sagte ihm, wo das Tempolimit kontrolliert wurde und wo er wieder auf die Tube drücken konnte. Außerdem kannte er die Wirtschaft an der Strecke, wo wir was essen sollten.
Selman Trtovac, Leiter der Bibliothek des Goethe-Instituts Belgrad, hatte nicht nur die zusätzlichen Lesungen in Zagreb und Bijelo Polje organisiert, sondern begleitete mich. Er hat Literatur studiert – und hauptsächlich Kunst, unter anderem acht Jahre in Düsseldorf. So kam es, dass wir nun täglich eine Aktion von Beuys nachmachten und uns »Ja Ja Ja« und »Ne Ne Ne«zuriefen. Allerdings ohne uns an die Originallänge von einer Stunde und fünf Minuten zu halten.
Den Künstler Trtovac hatte ich letztes Jahr in Augsburg kennengelernt, als er (zusammen mit der Gruppe diSTRUKTURA, die uns in Belgrad zeigten, wo der Milosevic nachfolgende Ministerpräsident Zoran Djindjic 2003 erschossen wurde) zwei Monate Artist in Residence war, und jetzt erklärte er dem Kommissar, dass ich über den Balkan kurvte, um einen Kriminalroman über einen Bullen mit Problemen vorzustellen. Das »hm hm« des Bullen war das internationale Zeichen für Ratlosigkeit.
Wir bekamen übersetzt, dass der Kommissar und seine Leute es seit einiger Zeit verstärkt mit deutschen Touristen zu tun hatten, die sich in der Natur dumm verhielten und gerettet werden mussten. Der serbische Künstler und der montenegrinische Polizist unterhielten sich so gut, dass wir kaum noch was übersetzt bekamen.
Trtovac aß dann wie üblich Cevapi und rührte, wie der Kommissar, den Salat nicht an. Ich habe vergessen, was ich gegessen habe, aber es war gut. Lässige müde Stimmung. Der Kommissar telefonierte viel. Er hatte Urlaub und fuhr (dank uns früher als erwartet) zu seiner Frau nach Belgrad, wo er mal einige Zeit als Security an der montenegrinischen Botschaft eingesetzt war. Ich fragte mich, ob man ihn strafversetzt hatte. Im Film landet der Kommissar dann ja immer in der Natur.
Was uns total verblüffte, war, dass im Fernseher dieses normalen Restaurants an der Straße nach Belgrad mitten am Nachmittag doch tatsächlich eine Doku über Pina Bausch lief. Selman war begeistert und erzählte dem Kommissar einiges über die Tänzerin und Regisseurin, von der auch ich keine Ahnung hatte; okay, Wuppertal hat man sich natürlich gemerkt.
Der Kommissar stieg ziemlich am Anfang in den Blockbergen von Belgrad aus. Zuletzt gab er Selman seine Karte. Der freute sich: Sollte ich in Montenegro jemals ein Problem haben, soll ich ihn anrufen!
Ich musste daran denken, dass der Bibliotheksleiter von Bijelo Polje, Edin Smailovic, mit dem stellvertretenden deutschen Botschafter Uwe Meerkötter viel über Politik diskutiert hatte. Bald würde darüber abgestimmt werden, ob sich Montenegro auf die Seite Russlands oder der EU stellen würde. Smailovic hoffte auf die EU und befürchtete, dass es im Moment nicht besser als fity-fifty stand. Der Botschafter erklärte, dass Montenegro mit seinen 620.000 Einwohnern ein unbedeutendes Land war, allerdings mit einem Zugang zum Meer, an dem Russland sehr interessiert war. An den Stränden lagen russische Millionäre besonders gern.
Auf der Fahrt durch die Berge viele Häuser und Hütten, die nach Armut aussahen. Der Atheist Selman Trtovac, dessen Herkunft mit moslemisch-kroatisch-christlich-italienisch nur unzureichend beschrieben ist, erzählte, dass hier Wölfe und Bären rumliefen und in jedem Haus eine Waffe war. Der Kommissar erzählte, dass hier jeder legal Schnaps brannte, was ja in der EU eher nicht so gern gesehen wird. Beim großen polnischen Schriftsteller und Balkanreisenden Andrzej Stasiuk in »Fado« gelesen, dass hier noch das Gesetz der Blutrache galt und dass es nirgendwo in Europa innerhalb weniger Kilometer so riesige Unterschiede zwischen arm (Berge) und reich (Küste) gab bzw. einem Leben, das wie seit Jahrhunderten ablief, und einem, das wie in einer topmodernen Diskothek aussah.
Kurzum, es konnte also auf keinen Fall was schaden, wenn man einen Kommissar in Montenegro kannte, dem man mal geholfen hatte.
Inzwischen war es Nacht, wir waren seit zehn Stunden unterwegs, am Belgrader Bahnhof wurde der Verkehr nervenzerfetzend zäh, die Arschloch!-Rufe des Fahrers häuften sich – und dann reichte es ihm plötzlich, er zischte ab wie in einem Highway-Cop-Film, überholte alles auf Teufel-komm-raus und brach in wenigen Minuten einen Berg von Verkehrsregeln. Dennoch hatten wir auch ohne den Kommissar überhaupt keine Angst.
Abschied von den Künstlern
Am Morgen des 29. Juli machten sich diSTRUKTURA, nachdem sie acht Wochen in Augsburg gelebt und gearbeitet hatten, auf den Weg in Richtung Belgrad. Selman Trtovac und seine Familie brachen am 30. Juli auf, um nach 6 Wochen Aufenthalt in Augsburg noch eine Woche Urlaub in Österreich zu machen.
Utopie des Friedens
Eine Woche vor ihrer Vernissage »Auf dem Weg zum Tatort« im Höhmannhaus trafen wir die serbischen Künstler der Gruppe diSTRUKTURA und Selman Trtovac sowie den Kurator der Schau Thomas Elsen von den Kunstsammlungen und Museen Stadt Augsburg im
Artist-in-Residence-Atelier im Kulturpark West zum Interview. Vor zwei Monaten haben die Künstler ihre Studios in Belgrad verlassen und sind seitdem Gäste der Initiative »Hoher Weg«. In Augsburg arbeiten sie am Thema »Utopie des Friedens«. Das Gespräch führte Jürgen Kannler.
Herr Elsen, arbeiten Sie zum ersten Mal in Augsburg mit Artist-in-Residence-Künstlern zusammen?
Thomas Elsen: Ja, das ist das erste Mal, und ich kann mich auch nicht erinnern, dass es ein Artist-in-Residence-Programm in Augsburg schon einmal gegeben hat. Insofern ist es für mich sehr spannend und schön, dass dieses Projekt zustande kam. Die Option, dass zu einem späteren Zeitpunkt Künstler aus Augsburg im Gegenzug auch die Möglichkeit haben, für eine bestimmte Zeit in Belgrad arbeiten zu können, ist natürlich toll.
Was unterscheidet diese Arbeitsform von der Zusammenarbeit mit Künstlern, wie Sie sie sonst im H2 und im Höhmannhaus pflegen?
Thomas Elsen: Das ist gar kein so großer Unterschied. Wenn wir Ausstellungen konzipieren oder wenn Künstler für uns Ausstellungen machen, bestehen immer eine direkte Zusammenarbeit und ein Dialog. Was hier jetzt natürlich anders ist, ist die Möglichkeit für die Künstler, über mehrere Wochen in Augsburg zu leben und vor Ort arbeiten zu können. Die Vorbereitung ist auch sehr spannend, da man nicht genau weiß, welches Ergebnis am Ende stehen wird.
Die Einladung, in Augsburg Artist in Residence zu werden, war damit verbunden, zum Thema »Utopie des Friedens« zu arbeiten. Wie reagierten Sie als Künstler auf diese Forderung?
diSTRUKTURA: Normalerweise fühlen sich Künstler nicht wirklich wohl, wenn ihnen ein bestimmtes Thema vorgegeben wird. In diesem Fall waren wir jedoch sehr interessiert, da es zu dem Thema passt, mit dem wir uns generell beschäftigen. Es war einladend und inspirierend, sich mit der »Utopie des Friedens« zu beschäftigen und dieses Thema gekoppelt an die zeitgenössischen Landschaften unserer Gastregion in das Projekt aufzunehmen. Den Begriff »zeitgenössische Landschaft« verstehen wir als »von Menschenhand gestaltete Landschaft«. Es handelt sich dabei um die Landschaft nach der industriellen, der technologischen und der digitalen Revolution.
Selman Trtovac: Ich beschäftige mich seit Langem mit Fragen rund um den Begriff »Utopie«. Gerade die Einladung, mich mit der Utopie des Friedens auseinanderzusetzen, was schließlich ein gesellschaftliches und geschichtliches Thema ist, sprach mich an. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Geschichte meines Großvaters, der vor etwa 70 Jahren in dieser Region Zwangsarbeiter war, bewege ich mich als Künstler in derselben Gegend und denke über die Utopie nach. Diese zwei Gegensätze habe ich als Ansatz für meine Arbeit hier genommen. Ich wollte in meiner künstlerischen Arbeit keine persönliche Geschichte erzählen, aber ich wollte dies für den Prozess benutzen. Was mich gerade in diesem Kontext interessiert, sind metaphorische Linien, die etwas über gesellschaftliche und geistige Prozesse aussagen und wie sich diese Prozesse gegenüber verschiedenen Werten verhalten. Werte, die wir als utopisch bezeichnen, können sich entwickeln.
Thomas Elsen, was hat Sie als Hausherr im Höhmannhaus gereizt, den Ideen der Artists in Residence eine Plattform zu geben?
Thomas Elsen: Die Aussicht auf die Ergebnisse, die in solch einem künstlerischen Prozess
entstehen, interessiert mich sehr. Insofern kommen wir, die Künstler auf der einen Seite und mein Interesse an Kunst auf der anderen, ganz natürlich zusammen. Als Sie die Idee des Artist-in-Residence-Projekts und die damit verbundenen Künstler vorgestellt haben, wurde ersichtlich, dass dabei die prozesshafte Arbeit ein wichtiger Punkt ist. Wie vorhin schon erwähnt, weiß man eben nicht, was letztlich dabei herauskommt. Man weiß aber, dass es eine sehr intensive und sehr authentische Geschichte wird, die speziell für diese Situation geschaffen wird und die in dieser Form so auch nicht wiederholbar ist. Es handelt sich nicht um eine klassische Galerieausstellung, hier entsteht etwas in diesem speziellen, mentalen Raum, wie Selman es wahrscheinlich sagen würde. Der tatsächliche Raum wird von diSTRUKTURA und Selman Trtovac entwickelt und in Zusammenarbeit in eine eigene Form gebracht. In der Gesamtpräsentation scheinen die einzelnen Positionen auf. Das eigentliche Resultat ist eine Zusammenarbeit, die prozesshaft in diesem Raum entsteht, und das finde ich sehr schön.
Es ist ja auch nicht unumstritten, künstlerisches Arbeiten und vorgegebene thematische Konzepte zu koppeln. Wenn man nicht aufpasst, findet man sich schnell in einem Korsett wieder, wie es nicht selten bei Kunst-am-Bau-Projekten zu finden ist. Wie haben Sie Ihre Spielräume genutzt, um sich selber und dem Thema treu zu bleiben?
diSTRUKTURA: Als wir wussten, dass dieses Thema zu unserer Art zu arbeiten und in unseren künstlerischen Rahmen passt, haben wir uns dazu entschieden, an diesem Projekt teilzunehmen. Wir nehmen uns so viel Freiheit wie möglich, um uns auszudrücken, und sehen die Grenzen nicht so eng.
Thomas Elsen: Auf der einen Seite ist das Thema »Utopie des Friedens«, auf der anderen ist eine sehr offene, mentale Plattform, und meiner Meinung nach ist fast jede Art von Kunst eine
Utopie des Friedens. Für mich ist es mehr eine intellektuelle Motivation, etwas zu entwickeln, was mit eigener Arbeit zu tun hat und nicht künstlich konstruiert ist.
Selman Trtovac: Diese Einladung und die Arbeit in diesem Kontext sind für mich eine Herausforderung. Der Begriff »Utopie« wie auch »Utopie des Friedens« ist ein sehr breiter Begriff und eigentlich ist alles, was wir unser Leben lang machen, utopisch und hat mit Utopie zu tun. In diesem Sinne ist es überhaupt keine Begrenzung oder ein enger Raum, in dem wir uns bewegen müssen.
Selman, als Philosoph haben Sie eine Kernaussage formuliert, die man vielleicht so zusammenfassen kann: »Vernichte nach fünf Jahren alles, was du gemacht hast, und fang von Neuem an.« Diese Aussage ist mittlerweile auch schon ein paar Jahre alt, wie bringen Sie das in Ihre jetzige Lebenssituation mit ein?
Selman Trtovac: Diese Position war mit einer Gruppenarbeit verbunden, die mit dem Thema »Micro-Utopia« zu tun hatte. Ich denke, dass jede Position, Idee oder Meinung in der Kunst hinterfragt und vielleicht auch zerstört werden muss, um neu definiert werden zu können. Neu zu definieren heißt auch von Neuem anzufangen und umzudenken. So entsteht natürlich auch ein Risiko, wodurch der künstlerische Prozess aber erhalten bleibt.
Selman schrieb von einem Fünfjahresplan, um Dinge zu überarbeiten und zu hinterfragen. Wie verhält es sich mit dem Thema Taktung bei diSTRUKTURA, die ja als Ehepaar zusammen arbeiten und leben? Ist es da nicht zwangsläufig so, dass man bei seinen künstlerischen Entscheidungen permanent nicht nur selber hinterfragt, sondern auch von seinem Gegenüber hinterfragt wird?
diSTRUKTURA: Als wir anfingen, zusammen zu arbeiten, versuchten wir mit unseren ersten gemeinsamen Werken zu definieren, was wir machen möchten und mit welchem Thema wir uns beschäftigen wollen. Wie vorhin schon erwähnt, befassen wir uns mit der zeitgenössischen Landschaft, was aber nicht bedeuten soll, dass wir uns nur auf dieses Thema fixieren. Wir verändern uns, und genauso verändern sich unsere Arbeiten. Es handelt sich um einen Prozess, der dazu auffordert, Themen immer wieder neu zu definieren. Es geht also um einen Prozess zwischen Thema und Arbeit und umgekehrt. Wir wollen nicht begrenzt sein. Wenn uns etwas anspricht oder begeistert, versuchen wir es eben in unsere Arbeit aufzunehmen.
Als Ehepaar haben Sie im Kulturbetrieb vermutlich einen gewissen Exotenstatus, wie beispielsweise Gilbert & George oder Christo und Jeanne-Claude. Wie werden Sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen?
diSTRUKTURA: Es ist nicht revolutionär, als Ehepaar zusammenzusein und als Künstler zusammen zu arbeiten. Manchmal treffen wir aber Leute, die von unserer Methode tatsächlich überrascht sind.
Es hat ja auch wirklich etwas Besonderes. Es gibt nicht viele Ehepaare in der Geschichte der Kunst.
diSTRUKTURA: Wir sehen das als Vorteil. Wir müssen uns selbst immer hinterfragen und das Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen, neu definieren. Jeder von uns hat einen Eindruck oder eine Idee, die er dann dem anderen erklären muss. Daraufhin müssen wir ein Lösung finden, mit der wir beide zufrieden sind. Es handelt sich also um einen Untersuchungsprozess, durch den wir wachsen. Wir müssen dabei auch Kompromisse eingehen, da man die andere Person und ihre Ideen annehmen muss. Außerdem ist es ein Vorteil, dass die andere Person einem bei einer Denkblockade helfen kann. Für diese Art von Zusammenarbeit muss man auf das Unerwartete und Unbekannte eingehen können.
Selman, Sie hatten nun über Wochen die Gelegenheit, Ihre Kollegen zu beobachten. Vermissen Sie bei Ihrer Arbeitsweise nicht den Aspekt der Vertrautheit mit einem anderen Menschen, so wie ihn die Kollegen haben, oder sind Sie froh, als Solist arbeiten zu können?
Selman Trtovac: Ich habe fünf Jahre lang in einer Gruppe, in einem kollektiven, mentalen Raum gearbeitet und dabei wie diSTRUKTURA mit Dialogen, Kompromissen und Offenheit für die Ideen der anderen Künstler Erfahrungen gemacht. Durch Dialoge und die Auseinandersetzung mit der Kunst von anderen versuche ich meine eigenen Prozesse zu bereichern. Ich arbeite zwar allein und treffe Entscheidungen für mich, aber die Dialoge führe ich hier zum Beispiel mit Thomas Elsen, diSTRUKTURA und vielen anderen Menschen in meiner Umgebung.
Thomas Elsen: Das ist eine persönliche Entscheidung, ob man seine künstlerische Zusammenarbeit und die persönliche Beziehung gemeinsam entwickelt und entwickeln kann. Für mich kommt es als Beobachter, der Kunst intellektuell begleitet, nur auf die Qualität des Prozesses an. Der Dialog, der Austausch, der dann zu etwas führt, ist der Kern der Arbeit. Man muss Kompromisse eingehen, seine Ideen aber auch durchhalten und durchsetzen.
Selman Trtovac: Ein wichtiger Teil des Dialogs, in dem wir hier zusammen denken, kreist um den Aufbau der Ausstellung im Höhmannhaus selbst. Innerhalb kürzester Zeit müssen wir diese ganzen Prozesse, die unsere Arbeit hier kennzeichnen, nochmals durchgehen.
Sie haben über viele andere Gemeinsamkeiten hinaus auch einen gemeinsamen Erfahrungspool, den wohl kaum jemand haben wird, der Ihre Ausstellung im Höhmannhaus besuchen wird. In diesen Tagen gedenken die Menschen des Massakers von Srebrenica vor 20 Jahren. Im Allgemeinen ist es aber um den Jugoslawienkrieg sehr still geworden. Wie haben dieser Krieg und seine Folgen Ihre Arbeit geprägt?
diSTRUKTURA: Es sind natürlich immer Einflüsse vorhanden, mit denen wir uns aber im laufenden Prozess nicht konkret beschäftigt haben. Vielmehr beschäftigen sich diese Einflüsse unentwegt mit uns. Wir haben schon vor einiger Zeit ein Projekt entwickelt, das die Konsequenzen des Krieges im Hinblick auf die politische und soziale Lage Serbiens und der Balkanländer behandelt. Eine Konsequenz, die wir als Folge des Krieges und der heutigen Situation in Ex-Jugoslawien tragen, ist etwa die, dass viele unserer Freunde Serbien verlassen, um ein besseres Leben führen zu können. Das war ausschlaggebend für dieses Projekt, das wir mit dieser sehr persönlichen Perspektive begonnen haben. Die Ausstellung, die wir gerade in Belgrad vorbereiten, handelt zum Beispiel von der Definition der »mitteleuropäischen Landschaft« vom Ersten Weltkrieg bis heute. Sie ist Teil der Frage, wie Landschaften ein Drama oder einen großen Konflikt vermitteln, dessen Bühne sie waren.
Selman Trtovac: Ich war nicht unmittelbar in den Krieg involviert. Wenn ich über diese Erfahrung nachdenke, gibt es eine persönliche Ebene, eine politische, eine philosophische, eine soziologische und viele Ebenen mehr. Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand dieses Drama für seine politischen Ziele missbraucht. Ich gehe an dieses Thema direkt ran, aber mit viel Vorsicht. Es gibt auch viele Arbeiten, die immer wieder einen Bezug zu dieser Erfahrung, diesem Thema und Drama herstellen. Die Realität ist nicht schwarz-weiß und sie ist nicht einfach zu definieren. Ich versuche durch meine eigenen Erfahrungen zu einer universellen, allgemein geltenden Position als Axiom zu gelangen. Es ist wichtig, dass man Erfahrungen hat, aber durch die künstlerische Sprache muss man eine universelle Dimension erreichen.
Vernissage im Höhmannhaus
Am Abend des 24. Juli fand die Vernissage zur Ausstellung „Auf dem Weg zum Tatort ‚diSTRUKTURA hat es gesagt, Selman hat es erahnt‘ “ statt. Um 19:30 Uhr begann die Vernissage, bei der die Arbeiten der Artist-in-Residence-Künstler diSTRUKTURA und Selman Trtovac ausgestellt wurden. Die Werke, die sich mit der Utopie des Friedens auseinandersetzten, wurden von zahlreichen Besuchern bewundert. Zu Beginn begrüßte der Kurator Dr. Thomas Elsen die Gäste. Anschließenden sprachen auch Milica Milicevic (diSTRUKTURA), Selman Trtovac und Michael Bernicker zu den Gästen. Für die musikalische Untermalung des Abends sorgte der Schriftsteller, DJ und Journalist Franz Dobler. Auf dem Foto sind von links nach recht zu erkennen: Michael Bernicker (Initiator Hoher Weg), Selman Trtovac (Artist in Residence), Milan Bosnic (diSTRUKTURA/ Artist in Residence), Milica Milicevic (diSTRUKTURA/ Artist in Residence) und Dr. Thomas Elsen (Leiter H2- Zentrum für Gegenwartskunst).
Die Arbeiten sind noch bis zum 6. September in der Galerie im Höhmannhaus ausgestellt.
Video: Werstatt für urbane Intervention
Zwei Tage Akademie OST-WEST-Dialog
Am 23. und 24. Juli fand im Fugger und Welser Erlebnismuseum die Akademie OST-WEST-Dialog statt. An den zwei Sommertagen übten Künstler, Politiker und Wirtschaftsvertreter aus Serbien und Deutschland im Rahmen von verschiedenen Diskussionsforen den Austausch.
Am Donnerstag wurden die zahlreichen Gäste um 14 Uhr von Götz Beck (Geschäftsführer der Regio Augsburg), Biljana Celik-Jeftic (Vize-Konsulin Republik Serbien), Dr. Volker Ulrich (MdB) und Michael Bernicker (Initiator Hoher Weg) begrüßt. Anschließend startete das Diskussionsforum I: Deutschland-Serbien: Brennpunkt europäischer Politik – Chancen und Risiken. Nach diesem Gespräch war es den Gästen möglich, an einer Führung durch das Museum teilzunehmen. Um 17:30 Uhr startete das Diskussionsforum II: Grenzüberschreitend leben. Die letzte Diskussion, an der sich diSTRUKTURA, Selman Trtovac und Dr. Thomas Elsen beteiligten, stand unter dem Thema Krieg, Krise, Kunst. (Foto von links nach rechts: Dr. Thomas Elsen, Milan Bosnic von diSTRUKTURA, Milica Milicevic von diSTRUKTURA, Michael Bernicker und Selman Trtovac). Am Abend wurde im Garten des Museums gegessen.
Am Freitag, den 24. Juli, begrüßten Eva Weber (2. Bürgermeisterin der Stadt Augsburg) und Thomas Weitzel (Kulturreferent der Stadt Augsburg) die Gäste um 10 Uhr. Um 10:30 Uhr startete das Diskussionsforum IV: Utopie des Friedens: Inwiefern beeinflusst histrorisches Wissen die Arbeit der Gegenwart?. Zu den Diskutanten gehörten Tobias Brenner (Universtität Augsburg), Prof. Dr. Maren Röger (Universtität Augsburg) und Selman Trtovac. Ab 12 Uhr wurde mit Hilfe von Götz Beck ein Ausflug nach Oberschönenfeld unternommen. Die Gäste aus Serbien, Dr. Volker Ulrich, Götz Beck und Manfred Bähner (stellvertretender Bezirkstagspräsident Bezirk Schwaben) aßen gemeinsam im Klosterstüble und wurden durch die aktuelle Ausstellung geführt.
Video: Werkstatt für urbane Intervention
Serbische Filmnacht
Für den Mittwochabend, den 29. Juli, war eine serbische Filmnacht im Garten des Schaezlerpallais geplant. Für diesen Abend wurden der Film „No one’s child“ (Originaltitel: Nicije Dete) von Vuk Rsumovic (2014), die Dokumentation „Logbook_Serbistan“ von Zelimir Zilnik (2015) und verschiedene Kurzfilme von Igor Simic ausgewählt.
Der Film „No one’s child“ handelt davon, dass ein Junge Ende der 80er Jahre in den Bergen von Bosnien und Herzegovina gefunden wurde. Man weiß weder, wie er in die Wildniss gelangt ist, noch ob er von Tieren aufgezogen und ernährt wurde.
In der Dokumentation „Logbook_Serbistan“ werden illegale Migranten und Asylbewerber, die in Flüchtlingunterkünften Serbien leben, begleitet.
Aufgrund der Witterungsverhältnisse wird die serbische Filmnacht am Mittwochabend nicht stattfinden. Wir bemühen uns um einen Ersatztermin, an dem die bereits ausgewählten Filme gezeigt werden.
Selman Trtovac
Während seines Aufenthalts in Augsburg entstand eine Serie von Zeichnungen, Fotos und Videos zum Thema »Utopie des Friedens«, dem Motto des Artist-in-Residence-Projekts.
Seine künstlerischen Reflexionen dazu beinhalten zwei Ansätze. Zum einen war Trtovacs Großvater während der NS-Zeit mehrere Jahre als Zwangsarbeiter in Bayern. Im krassen Gegensatz dazu existiert für den Künstler auch eine utopische Vorstellung von Frieden. Er interessiert sich für die »Linie«, die zwischen diesen Gegensätzen verläuft. Diese Linie ist eine Metapher für Prozesse, Verwandlungen und Erkenntnisse, für menschliche Beziehungen und die Ethik der Zeit, in der wir leben.
Selman Trtovac gehört zu einer Generation, die ihre künstlerische Sprache in den 90er-Jahren fand. Zu Anfang war er vor allem im Belgrader Studenten-Kulturzentrum aktiv. Später ging Trtovac nach Düsseldorf, um sich an der Kunstakademie in der Klasse von Klaus Rinke weiterzuentwickeln. Heute lebt er mit seiner Familie in Belgrad.
Der Clip FUGA wurde im Juli 2015 im Allgäuer Ort Gestertz gedreht. Hier waren im Dritten Reich Zwangsarbeiter, unter anderem aus Serbien, interniert.
Die Fuge (von lateinisch »fuga«: Flucht) ist ein musikalisches Kompositionsprinzip der Polyphonie. Besonderes Kennzeichen der Fuge ist ihre komplexe Themenverarbeitung. Eine Fuge beginnt mit der Exposition der Stimmen: Die erste Stimme trägt das – meist kurze und prägnante – Thema vor. Dieser Themeneinsatz wird auch als Dux (lat. »dux«: Führer) bezeichnet. Hierzu gesellt sich in der Folge eine zweite Stimme, die das Thema nun als Comes (lat. »comes«: Gefährte) auf die Oberquinte (bzw. Unterquarte) versetzt vorträgt. (Quelle: Wikipedia)
diSTRUKTURA
Milica Milićević (*1979) und Milan Bosnic (*1969) sind beide MA der Abteilung für Malerei an der Fakultät für Bildende Künste der Universität der Künste in Belgrad, Serbien, und auch wenn sie bei Gruppen- und Einzelausstellungen in diverse individuelle Projekte eingebunden waren, arbeiten sie seit mehr als zehn Jahren unter dem Namen diSTRUKTURA an gemeinsamen Projekten. Ihre Ideen setzen sie in verschiedensten Medien um, in der Hauptsache jedoch durch Fotografie, Malerei, Zeichnungen und Video. diSTRUKTURA leben und arbeiten in Belgrad.
diSTRUKTURA haben an mehr als 20 Einzel- und mehr als 40 Gruppenausstellungen teilgenommen, z.B.: Subdued Existence, Taichung/Taiwan (2014) distURBANces, Ljubljana (2014), Luxemburg (2013) und Wien 2012, TINA B. Festival, Prag (2012), Police the Police/Biennale junger Künstler, Bukarest (2010), Belgrade Non-Places, Salon des Museums für zeitgenössische Kunst in Belgrad (2009), Hotel Mariakapel: a portrait by Katie Jane, Hoornu/Niederlande (2008), Micro Narratives, Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Saint-Etienne (2008), 48. Oktobersalon, Belgrad (2007), Steirischer Herbst 2007 – next code: love, Graz (2007). Sie hatten Einzelausstellungen in Serbien, Österreich, den Niederlanden, Deutschland, Japan, der Tschechischen Republik, Slowenien und Finnland.
Ihre Arbeit wird unter anderem unterstützt von: Pollock-Krasner Foundation, Europäische Kulturstiftung, KulturKontakt, Königreich Norwegen, Kulturstiftung Pro Helvetia, Kultusministerium der Republik Serbien, Stadt Belgrad, Okolje Consulting. Ihre Arbeiten sind heute Teil von vielen privaten, öffentlichen und Unternehmenskunstsammlungen wie: Sammlung des Museums für zeitgenössische Kunst Vojvodina, Sammlung des Belgrader Kulturzentrums, Sammlung der Wiener Städtischen, Belgrader Stadtmuseum, Telenor-Kunstsammlung und Kunstsammlung der Okolje Consulting.
In den letzten zehn Jahren nahmen sie an Artist-in-Residence-Programmen und Workshops in Deutschland, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Slowenien, Italien, Finnland, Ägypten und Serbien teil. www.distruktura.com
In den letzten Jahren beschäftigten sich diSTRUKTURAs Arbeiten mit der Idee der zeitgenössischen, von Menschenhand geschaffenen Landschaft, die nach der industriellen, technischen und digitalen Revolution entstanden ist. Ihre Werke laden zur Betrachtung dieser für das 21. Jahrhundert typischen Gegenden ein und machen auf die sehr empfindliche Verbindung zwischen Mensch und Umwelt aufmerksam. In Augsburg liegt der Schwerpunkt ihrer künstlerischen Forschung auf der Erkundung von Kriegsschauplätzen und Botschaften, die unser Friedensverständnis vermitteln.
Im Kontext ihrer früherer Arbeiten, die sich auf die Landschaft als Hauptforschungsfeld konzentrierten, untersuchen diSTRUKTURA nun Orte, an denen Kriege, Revolutionen und gewalttätige Konflikte stattgefunden haben. Dabei stellen sie den heutigen Zustand der bewegten Vergangenheit gegenüber.
Indem sie den Fokus ihrer Arbeit auf die Gebiete früherer Schlachtfelder richten, machen sie sichtbar, wie die Vergangenheit Raum und Zeit durchlebt und der Ort selbst an das Ereignis erinnert.
2015 – Pilotprojekt
Die Einladung „Welcome in der Friedensstadt“ für das Jahr 2015 ging an Selman Trtovac und die Künstlergruppe diSTRUKTURA aus Belgrad. Zwischen Juni und August 2015 besuchten die Künstler Augsburg, um Stadt und Region kennenzulernen und vor Ort Kunst zum Thema „Konfliktpotenzial Religion und die Utopie des Friedens“ zu schaffen. Diese Arbeiten wurden zwischen dem 24. Juli und 30. August 2015 in der Neuen Galerie im Höhmannhaus der Öffentlichkeit präsentiert. Betreut wurde die Ausstellung von Dr. Thomas Elsen, dem Leiter des Augsburger Zentrums für Gegenwartskunst H2, der die Künstler in seine Galerie einlud.
Mit dem Goethe-Institut Belgrad konnten wir eine renommierte Einrichtung als Anlaufstelle und Partner für „Welcome in der Friedensstadt“ vor Ort gewinnen. Eine Gegeneinladung für den in Augsburg lebenden Autor Franz Dobler nach Belgrad für März 2016 liegt vor.
Unsere Partner: Stadt Augsburg, Stadt Belgrad, Kultusministerium der Republik Serbien,
H2 – Zentrum für Gegenwartskunst, Kulturpark West, Goethe-Institut Belgrad, Grandhotel Cosmopolis, a3kultur, Universität Augsburg, Bezirk Schwaben, Kulturfonds Bayern, Griesmann Vermietungen, AHK – Delegation der Deutschen Wirtschaft in Serbien, Augsburg-Tourismus GmbH, sowie zahlreiche private Förderer und Unterstützer.
Grillfest von Selman und diSTRUKTURA
Am 21. Juli luden Selman Trtovac und diSTRUKTURA zu einem Grillfest im Bombig ein. An diesem Abend servierten Selman und diSTRUKTURA selbstgemachtes, typisch serbisches Cevapcici. Zu Gast waren die zahlreichen Freundinnen und Freunde, die die Künstler während ihrer Zeit in Augsburg gefunden haben.